Während der Synode des Kirchenkreises Moers am 2. und 3. Juni 2023 stellte Superintendent Wolfram Syben die Ergebnisse der Studie zur sexualisierten Gewalt im Moerser Schülerheim Martinsstift während der 50er Jahre und notwendige Konsequenzen vor:
Nach Jahrzehnten des Schweigens, berichtete Syben, war einer der damaligen Schüler durch die Presseberichterstattung zu unterschiedlichen Missbrauchsfällen dazu bewegt worden, sich selber ebenfalls an die Anlaufstelle der Ev. Kirche mit dem zu wenden, was ihm als Jugendlichem angetan worden war. In der Folge dieser Meldung haben Verantwortliche der Kirchenleitung, der Diakonie RWL, des Kreissynodalvorstandes des Kirchenkreises Moers und der Kirchengemeinde Moers zusammen mit zwei ehemaligen Schülern eine externe wissenschaftliche Studie zur Aufarbeitung und Veröffentlichung in Auftrag gegeben und intensiv begleitet.
Syben beschrieb, wie der damalige Leiter in den Jahren von 1954-1956 ein Gewaltregime über die 80 Jungen zwischen 10 und 17 Jahren geführt habe mit willkürlichen Strafen, Gewalt und sexualisierter Gewalt. Gewalt sei auch durch andere Beschäftigte und zwischen den Jungen ausgeübt worden. Der damalige Hausmeister brachte die Vorgänge zur Anzeige. Der Heimleiter wurde in einem Prozess, der für große öffentliche Aufmerksamkeit in der Bundesrepublik sorgte, zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Doch das Geschehene wurde von den damals Verantwortlichen aktiv „beschwiegen“ und damit aus dem Bewusstsein verdrängt. In kirchlichen und diakonischen Verlautbarungen findet sich keine Notiz davon. Die Studie nenne das „institutionellen Narzissmus“, erklärte Syben. „Ebenfalls geschwiegen wurde in weiten Teilen der Erwachsenenwelt: Die unterrichtenden Lehrer, der zuständige Pfarrer und Konfirmator, die Schulleitung, der nachfolgende neue Leiter des Martinstifts, weite Teile der Elternschaft und die meisten der Mitarbeitenden – sie schwiegen. Sie schwiegen und ließen die traumatisierten Jugendlichen mit ihren furchtbaren Gewalterfahrungen völlig allein. Das ist eine jeweils individuelle Katastrophe für alle, die solch schweres Leid erlitten haben. Das aktive ‚Beschweigen‘ führte zugleich auf allgemeinerer Ebene dazu, dass die im Martinstift verübten Verbrechen niemals in das gemeinschaftliche Bewusstsein und Gedächtnis hier vor Ort eingegangen sind: Nicht im Bereich der Gemeinde, nicht im Bereich der Schule, nicht auf der Ebene des Kirchenkreises und der Landeskirche, nicht im Bereich der Stadtgesellschaft.“
Mehrere Umstände haben die Gewalt im damaligen Schülerheim ermöglicht: Eine wirksame Aufsicht, die die Willkür des Heimleiters hätte beenden können, habe gefehlt. Das pädagogische Personal sei fachlich nicht ausgebildet oder unterqualifiziert gewesen. Es gab keinen konzeptionellen Rahmen, auf den sich Eltern oder Schüler hätten berufen können und zudem keine Beschwerdemöglichkeit.
Aus der Studie sollten die heute Verantwortlichen lernen, um konkrete und nachhaltige Schutzvorkehrungen in ihrem Verantwortungsbereich zu treffen und bestmöglichen Schutz vor sexualisierten Gewalttaten zu praktizieren. Zwar gäbe es mittlerweile viele staatliche Vorgaben und die kirchlichen Gesetze zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, Selbstverpflichtungserklärungen, Schulungen für alle Mitarbeitenden sowie die Verpflichtung zur Meldung von Verdachtsfällen. Das aber verhindere nicht automatisch Übergriffe. „Im Klartext heißt das: Kirche ist nicht per se ein Schutzraum – sondern wir müssen sie zu einem machen. Kirche, Gemeinde, Diakonie sind nicht außen vor, nicht besser, nicht ungefährdeter: Das Gewaltregime im Martinstift geschah mitten unter uns.“
In allen Bereichen der Arbeit müsse unmissverständlich klar gemacht werden, dass Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung nicht geduldet werden, in Stellenausschreibungen, Bewerbungsgesprächen, auf Homepages etc. Fortbildungen und Information auf allen Ebenen einer Einrichtung seien notwendig, damit eine Kultur der Aufmerksamkeit entstehe. Solche Schulungen sind für die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden verpflichtend.